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Winter

mc cabe & mrs miller / leonhard cohen

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Gescheiterte Künstler – Helden oder Dummköpfe? – Es gibt heute mehr Künstler denn je. Rund 99 Prozent aller Kunstschulabsolventen aber werden sich nie einen Namen auf dem Kunstmarkt machen (geschweige denn in der Kunstgeschichte). Warum aber zieht es trotzdem so viele zu diesem Beruf?

«Der künstlerische Genius will Freude machen, aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so fehlen ihm leicht die Geniessenden, er bietet Speisen, aber man will sie nicht. Das gibt ihm ein unter Umständen lächerlich rührendes Pathos, denn im Grunde hat er kein Recht, die Menschen zum Vergnügen zu zwingen. Seine Pfeife tönt, aber niemand will tanzen: kann das tragisch sein?» Mit diesem Diktum Friedrich Nietzsches kann sich ein jeder trösten, der sich als Künstler unverstanden oder unbeachtet fühlt. Und davon gibt es viele, was im Rummel um die Auktionsrekorde und Kunstmarktstars der letzten Jahre oft vergessen wurde. Zudem wirkt sich die Finanzkrise von 2008 nun auch mittelbar auf die bildende Kunst aus.

Man muss sich die Sozialstruktur der zeitgenössischen bildenden Künstler als Pyramide vorstellen: An der Spitze die derzeit 30 bis 40 grossen Namen, darunter ein hart um den Marktzugang kämpfender Mittelbau und schliesslich eine breite Basis von Kunsthochschulstudenten und Semiprofessionellen mit fliessendem Übergang zum Hobbykünstlertum. 99 Prozent der an staatlichen und privaten Kunstschulen angetretenen Kandidaten werden sich keinen Namen am Kunstmarkt und in der Kunstgeschichte machen. Sie versuchen es trotzdem. Dummheit oder Heldentum?

Zunächst einmal die Frage: Warum gibt es heute so viele Künstler, sowohl in Bern oder Berlin als auch in der Provinz? Es ist ein Wohlstandsphänomen. Sie erben jetzt die Vermögen, die ihre Eltern als erfolgreiche Mittelständler, Angestellte oder unentlassbare Beamte in den goldenen Jahrzehnten zwischen 1950 und 1980 angehäuft haben. Oder sie verbrauchen das klassische Old Money ihrer Vorfahren. Oder sie leben von den zahlreichen Stipendien, Kunstpreisen und Fördermassnahmen, die es noch immer gibt.

Alexander von Schönburg berichtet in seiner «Kunst des stilvollen Verarmens» von einem Freund aus reichem Hause, der gegen den Willen des Vaters Maler wurde und dennoch von ihm durch einen monatlichen Check unterstützt wurde, eigentlich eine Demütigung: «Eine Katastrophe für meinen jungen Freund. Er sitzt nun in einem Atelier in Nord-London, malt seine Bilder und wird es nie weit bringen, weil er nicht den Druck hat, den die Künstler spüren, die in den Ateliers neben und unter ihm arbeiten und die manchmal nicht wissen, woher sie die Miete für den nächsten Monat nehmen sollen.» Ein anderes Beispiel: Dash Snow, Shootingstar in der amerikanischen Kunstszene der nuller Jahre, stammte aus dem berühmten kunstsinnigen De-Menil-Clan. Das «Wall Street Journal» zählte ihn damals unter die zehn wichtigsten Nachwuchskünstler, er bekam sogar eine Ausstellung im Whitney-Museum. Andere Kritiker taten seine Karriere als Prominentenkindphänomen ab. Offenbar litt er so unter seiner Herkunft, dass er alles tat, um eine gefährliche Underground-Existenz zu fristen. Er starb 2009 im Alter von 27 Jahren an einer Überdosis Heroin. Manch reicher Erbe muss geradezu zwanghaft alles Etablierte, Hochdotierte und Marktgängige verachten und spielt den gescheiterten Künstler in einer dauerhaften Bohème-Performance.

Ähnliches trifft auch auf manche Künstler zu, die in den letzten Jahren erfolgreich wurden. Sie bemühen sich nun um eine majestätische Distanz zum Marktgeschehen, blicken verächtlich auf Sammler, Händler und «Spekulanten» herab und kokettieren notorisch mit einem radikalen Rückzug aus dem Kunstbetrieb. Der deutsche Maler Martin Eder gab beispielsweise zu Protokoll, vom kommerziellen Kunstbetrieb müsse man sich fernhalten, dies sei «ein hygienisches Problem, so wie Zahnbelag». Manche erfolgreiche Künstler plagt vielleicht ein chronisch schlechtes Gewissen, weil sie gerade durch den verachteten kommerziellen Kulturbetrieb gross geworden sind.

Die Künstler des Mittelbaus, die hart um ihren Lebensunterhalt kämpfen und sich noch Chancen auf einen Durchbruch ausrechnen, enthalten sich hingegen einer scharfen Marktkritik. Auch im kreativen Milieu spiegeln sich die Abstiegsängste der Mittelschichten. Trotz langen Flauten und akuter Krise setzen sie alles daran, nicht als «gescheiterte Künstler» dazustehen. Ute Weiss-Leder, Künstlerin und Pressesprecherin des Berufsverbandes Bildender Künstler in Berlin (BBK), hat die Beobachtung gemacht, dass die Selbstvermarktung unter Künstlern längst zu einer Selbstverleugnung geworden ist: Über Probleme, Zweifel und Misserfolge wage kaum noch jemand zu reden, selbst unter Freunden fürchteten viele als Verlierer abgestempelt zu werden.
Das ständige Reden von erfolgversprechenden Projekten oder Wettbewerbsbeiträgen werde so zur schützenden Maske. Die Attitüde des «strahlenden Gewinners» sei jetzt sogar für die Künstler-Nebenjobs in Galerien oder bei Messen nahezu obligatorisch geworden. Wer einmal das Image eines «gescheiterten Künstlers» weghabe, gelte als «schwierig» und werde nicht einmal zum Messebau angeheuert, geschweige denn als Künstler- oder Galerie-Assistent. Der Kunstmarkt-Hype der letzten Jahre kam in der Realität der meisten hoffnungsvollen Kunststudenten und Nachwuchskünstler in der Altersgruppe Mitte 20 bis Ende 30 gar nicht an. Für sie war der Rummel um die Trendkünstler und Auktionsrekorde genauso exotisch wie für die durchschnittliche «Gala»-Leserin im Zahnarztwartezimmer.

Da gibt es zum Beispiel Neo-Rauch-Schüler an der HGB Leipzig, die von Hartz IV leben, andere versuchen Kunst und Kinder unter einen Hut zu bekommen oder zerreiben sich in Jobs wie Eisverkaufen oder Nachtwache in psychotherapeutischen Wohngemeinschaften. Nicht immer wirken sich diese Tätigkeiten inspirierend auf die Kunst aus, doch wer jung ist, träumt weiter und malt notfalls auch nachts.

Wie sind die Verhältnisse in der Künstler-Unterschicht, an der breiten Basis der Einkommenspyramide? Regelmässig wird empirisches Material aus der deutschen Hauptstadt veröffentlicht, die in den letzten Jahren zu einem Mekka für Künstler geworden ist. Eine Befragung aus dem Jahr 2008 zeigt den erschreckend geringen Professionalisierungsgrad der Berliner Künstler: Nur 10 Prozent verfügten über eine vertragliche Galeriebindung, 7 Prozent waren an einer Produzentengalerie beteiligt, die grosse Mehrheit von 60 Prozent betrieb Selbstvermarktung aus dem Atelier heraus. Das Wirtschaftsforschungsinstitut DIW fand heraus: 6 Prozent sind ganz ohne Einkommen, 31 Prozent verdienen weniger als 12 000 Euro pro Jahr, insgesamt leben 78 Prozent der Berufskünstler in Berlin unter der Armutsgrenze. In den meisten Fällen sorgen Familienangehörige und Nebentätigkeiten für den Lebensunterhalt. Häufig werden auch Stipendien, Renten, Privatkredite, Arbeitslosengeld (ALG II) und Sozialhilfe als Einkommensquellen genannt, seltener «mäzenatische Unterstützung». Es häufen sich Fälle, in denen Künstler ihr Atelier verlieren oder ihre Renten gepfändet werden. Derzeit beziehen mehrere hundert Künstler in Berlin ALG II.

«Künstler sind ja nicht beschäftigungslos», sagt Bernhard Kotowski, BBK-Geschäftsführer in Berlin, «sondern sie arbeiten kontinuierlich an ihrem Œuvre und an seiner Vermarktung. Durch die Anforderungen der Jobcenter wird ihre Arbeitskraft in einem Ausmass abgesaugt, dass die Fortsetzung der künstlerischen Arbeit bedroht ist.» Bittere Erlebnisse haben auch Künstler, die in früheren Jahrzehnten durchaus Verkaufserfolge hatten und denen Sammler und Händler nun die Tür weisen – bis hin zu Szenen, in denen Sammler die Künstler bitten, ihre Werke doch lieber wieder abzuholen. Besonders Künstler der älteren Generation stehen auf dem Schlauch, wenn sie erfolglos geblieben sind. Für andere Jobs sind sie kaum noch vermittelbar, weil man eben mit der Zeit etwas wunderlich wird. Künstler, vor allem aber Künstlerinnen, sind zudem überdurchschnittlich oft alleinstehend und kinderlos – mit der Folge, dass kein Partner, keine Familie sie im Alter unterstützt und Altersarmut zum Problem werden kann.

Viele erfolglose Künstler verachten den Kunstmarkt und sind sich darin mit den erfolgreichen Kollegen an der Spitze der Pyramide durchaus einig. Doch während der reiche Künstler nur mit der Marktgegnerschaft, mit dem ökonomischen Scheitern kokettiert, ist es für den tatsächlich gescheiterten Künstler Ehrenrettung und Identitätsfestigung zugleich. Letztere klammern sich noch immer an die Van-Gogh-Legende: zu Lebzeiten ökonomisch gescheitert, postum ein Meilenstein der Kunstgeschichte.

Vielleicht fehlt manchem Künstler auch die Einsicht in seine begrenzten Fähigkeiten, vielleicht hat mancher den Zeitpunkt für einen rechtzeitigen Ausstieg, einen Berufswechsel verpasst, weil er sich zu lange am Van-Gogh-Mythos festgehalten hat. Der Künstler und Kunstpädagoge Willi Kemper brachte dieses Dilemma auf den Punkt: «Es fällt auf, dass die Mehrheit dieser ihr Schicksal annehmen und es als gegeben ansehen. Mir fehlt bei ihnen fast völlig die Fähigkeit zur Analyse, zur rigorosen Bestandsaufnahme bezüglich der eigenen Situation. Im Grunde leben sie in der sich rasant verändernden Welt immer noch das Künstlerideal des 19. Jahrhunderts. Und peinlich und unwürdig sind die Träume von Künstlern, wenn sie dann mit 50 oder sogar 60 Jahren immer noch an ihren Durchbruch zum Star glauben.»

Kemper schloss mit einem Appell zur Selbstkritik an seine Kollegen: «Hört auf zu jammern, schaut euch eure Arbeiten an, macht eine Pause, macht euch bewusst, was ihr gemacht habt in all den Jahren. Und wenn ihr ehrlich seid, spürt ihr, wie ihr in den Konventionen steckt, wie ihr euch wiederholt, wie ihr euch zufriedengebt mit wenig. Schmeisst die langweiligen und unehrlichen und kaum noch zu ertragenden Arbeiten weg, befreit euch von ihnen, macht euch frei. Ihr seid bei so vielen Moden auf den Karren gesprungen, viele eurer Arbeiten sind von euch selbst so weit entfernt wie der Mond von der Erde!»

Feridun Zaimoglu, heute einer der bekanntesten deutschen Schriftsteller, machte es nach seinem Kunststudium genauso. Hunderte Bilder hatte er gemalt: «Es war Plunder. Falscher Farbauftrag, flegelhafter Pinselstrich, dazu der unbedingte Wille, die Malerei neu zu erfinden. Eines Tages habe ich sie alle im Recyclinghof entsorgt, und da gehörten sie auch hin.» Mit diesem Befreiungsschlag wurde aus dem gescheiterten Maler ein erfolgreicher Schriftsteller. Einen ähnlichen Schritt vollzog die britische Künstlerin Tracey Emin, die am Ende ihrer Studienzeit am Londoner Royal College of Arts immer stärker davon überzeugt war, eine schlechte Künstlerin zu sein. Schliesslich nahm sie alle ihre Bilder vom Rahmen und warf sie in einen Müllcontainer. Jahrelang malte sie kein Bild mehr und schlitterte in eine persönliche Krise: «Ich gab die Malerei auf, gab die Kunst auf, ich glaubte nicht mehr an mich, hatte kein Vertrauen mehr. Ich durchlief, was ich als meinen emotionalen Selbstmord bezeichne.» Hier zeigt sich, dass der Mut zur Wahrheit, das Eingestehen des Scheiterns mit dem Risiko des persönlichen Zusammenbruchs einhergehen. Viele scheuen dieses Risiko. Im Fall von Tracey Emin gab es bekanntlich ein Happy End: Sie startete ihre Künstlerlaufbahn erneut und gehört heute zu den bekanntesten Gegenwartskünstlerinnen.

/ Dr. Christian Saehrendt ist Kunsthistoriker in Berlin.


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